2017-04-14 | Die Kreuzigung Christi

090412_Ostertage-Altoetting_ 057Bild: Ausschnitt aus 360° Panorama-Gemälde „Kreuzigung Christi“ in Altötting, Bayern.

Im Evangelium berichten insbesondere Matthäus und Johannes die wesentlichen Fakten zu diesem Ereignis. Von 1943 bis 1947 schrieb eine Visionärin – Maria Valtorta -, durch die Beschwerden an ihr Bett gefesselt, in kaum vier Jahren und in einem Guss ihr Meisterwerk, das im deutschen Sprachraum unter dem Titel Der Gottmensch – Leben und Leiden unseres Herrn Jesus Christus verbreitet wurde und zwölf Bände à je rund 400 Seiten umfasst.  In diesem Werk wird diese Episode der Kreuzigung Christi detaillierter beschrieben. Mit Erlaubnis des Parvis-Verlages veröffentlichen wir diese Episode hier nachfolgend. Papst Pius XII. forderte am 26. Februar 1948 zur Veröffentlichung des Werkes auf, und überzeugende Vertreter der katholischen Kirche  – wie Pater Pio – setzten sich für das Werk Der Gottmensch ein. Erste Infos zu Maria Valtorta: http://www.fatherspeaks.net/valtorta_intro_de.htm. Mehr zur Person Maria Valtorta siehe das Buch des Autors Jean-François Lavère: Das Rätsel Valtorta, ebenfalls im Parvis-Verlag. Eine Gegenüberstellung Der Gottmensch / Bibel gibt: http://evangelienharmonie.de/.

Lassen Sie sich durch die Episode über die Kreuzigung Jesu berühren.

Literaturangabe für den nachfolgenden Buchauszug: Maria Valtorta, Der Gottmensch – Leben und Leiden unseres Herrn Jesus Christus, Parvis-Verlag, CH-1648 Hauteville, Schweiz.

670  Die Kreuzigung

Vier muskulöse Männer, dem Aussehen nach Juden, und des Kreuzes würdigere Juden als die Verurteilten, gewiß von der gleichen Sorte wie die Geißler, springen von einem Pfad zur Hinrichtungsstätte hinauf. Sie tragen kurze ärmellose Tuniken und haben Nägel, Hämmer und Stricke in den Händen, die sie den drei Verurteilten grinsend zeigen. Durch die Menge geht eine Bewegung grausamer Begeisterung.

Der Zenturio bietet Jesus den Krug an, damit er den schmerzlindernden Myrrhenwein zu sich nimmt. Doch Jesus lehnt ab. Die beiden Räuber hingegen trinken viel davon. Dann stellt man die weithalsige Amphore neben einen großen Stein, fast an den äußersten Rand des Gipfels. Den Verurteilten wird nun befohlen, sich zu entkleiden. Die beiden Räuber tun dies ohne die geringste Scham. Sie vergnügen sich sogar damit, obszöne Gesten in Richtung der Menge und besonders der Priester in ihren weißen Leinengewändern zu machen, die ganz langsam auf den unteren kleinen Platz zurückgekehrt sind und ihr Ansehen ausgenützt haben, um sich dorthin vorzudrängen. Zu den Priestern sind zwei oder drei Pharisäer gekommen und andere anmaßende Gestalten, die der Haß zu Freunden macht. Ich sehe bekannte Personen, wie die Pharisäer Johanan und Ismael, den Schriftgelehrten Zadok, Eli von Kafarnaum.

Die Henker reichen den Verurteilten drei Lappen, damit sie sie um ihre Lenden binden. Die Räuber nehmen sie unter schrecklichen Flüchen. Jesus, der sich langsam entkleidet wegen der schmerzenden Wunden, lehnt ab. Vielleicht will er die kurzen Beinkleider anbehalten, die er auch bei der Geißelung getragen hat. Als ihm aber gesagt wird, daß er auch diese ablegen muß, streckt er die Hand aus, um vom Henker den Lappen zu erbitten und damit seine Blöße zu bedecken. Er ist nun wirklich der Erniedrigte, der selbst von Verbrechern einen Fetzen Stoff erbitten muß. Doch Maria hat die Szene beobachtet und den langen weißen Schleier abgenommen, der ihr Haupt unter dem dunklen Mantel bedeckt und in den sie schon so viele Tränen geweint hat. Sie nimmt den Schleier ab, ohne daß der Mantel fällt, und gibt ihn Johannes, damit dieser ihn Longinus für den Sohn reiche. Der Zenturio nimmt den Schleier widerspruchslos, und als er sieht, daß Jesus sich vollends entkleidet, wobei er sich vom Volk abwendet, so dass man seinen Rücken voll blauer Flecken und Blasen, offener blutender Wunden oder dunkler Blutkrusten sieht, übergibt er ihm das Tuch der Mutter. Jesus erkennt es. Er wickelt es mehrmals um die Hüften und befestigt es gut, damit es nicht rutscht. Und auf das bisher nur von Tränen benetzte Leinen fallen die ersten Blutstropfen, denn die vielen, kaum von Schorf bedeckten Wunden öffnen sich wieder, als er sich bückt, um Kleider und Sandalen abzulegen, und das Blut beginnt erneut zu fließen.

Nun wendet sich Jesus dem Volk zu. Und man sieht, daß auch die Brust, die Arme und die Beine voller Geißelhiebe sind. In der Lebergegend ist ein großer, blutunterlaufener Fleck, und unter dem linken Rippenbogen sind sieben geschwollene Striemen, die in einem violetten Kreis kleiner blutender Wunden enden – ein grausamer Geißelhieb in die so empfindliche Zwerchfellgegend. Die Knie sind durch die zahlreichen Stürze gleich nach der Gefangennahme und bis hinauf zum Kalvarienberg von schwarzen Blutergüssen bedeckt und an den Kniescheiben aufgeschlagen. Vor allem das rechte ist eine einzige blutige Wunde.

Das Volk verhöhnt ihn im Chor: »Oh, Schöner! Der Schönste unter den Menschenkindern! Die Töchter Jerusalems beten dich an … « und sie stimmen im Ton der Psalmen an: »Mein Geliebter ist weiß und rot, und er ragt hervor aus Zehntausenden. Sein Haupt ist feines Gold; wie Dattelrispen sind seine Locken, seidig wie das Gefieder der Raben. Seine Augen sind zwei Tauben am Wasser eines Baches, die sich baden in Milch, in der Milch seiner Augäpfel. Seine Wangen sind wie balsamische Beete. Wie Lilien sind seine Purpurlippen, sie träufeln flüssige Myrrhe. Es sind wie von Gold gedreht seine Hände, mit rosenroten Hyazinthen besetzt. Sein Leib ist wie Elfenbein, geschmückt mit Saphir. Seine Beine sind Marmorsäulen auf Sockeln von Feingold. Dem Libanon gleicht seine Majestät, den hohen Zedern sein Wuchs. Sein Mund ist voll Süße, alles ist Liebreiz an ihm.« Und sie lachen und schreien weiter: »Der Aussätzige, der Aussätzige! Hast du vielleicht mit einem Götzen Unzucht getrieben, daß Gott dich so sehr straft? Hast du dich gegen die Heiligen Israels aufgelehnt, wie Maria des Mose, daß du so gezüchtigt wirst? Oh! Oh, der Vollkommene! Du bist der Sohn Gottes? Aber nein! Die Mißgeburt Satans bist du! Aber er, Mammon, ist wenigstens mächtig und stark. Du … bist nur ein ohnmächtiges, schmutziges Nichts.« Die Räuber werden an die Kreuze gebunden und an ihre Plätze getragen, einer rechts und der andere links von dem für Jesus bestimmten Platz. Sie schreien, verwünschen und fluchen, besonders als man die Kreuze zu den Löchern trägt und die Stricke durch die Erschütterung in die Gelenke einschneiden. Ihre Flüche gegen Gott, gegen das Gesetz, gegen die Römer und gegen die Juden sind höllisch. Nun ist Jesus an der Reihe. Er legt sich ohne Widerstand zu leisten auf das Holz. Die beiden Räuber waren so rebellisch, daß die vier Henker allein mit ihnen nicht fertigwurden und Soldaten zu Hilfe rufen mußten, um sie festzuhalten, damit sie nicht beim Anbinden der Handgelenke Fußtritte bekämen. Bei Jesus braucht es keine Hilfe.

Er legt sich nieder, legt das Haupt an die bezeichnete Stelle. Er öffnet die Arme, wie sie ihm zu tun gebieten, und streckt die Beine aus, wie es befohlen wird. Er sorgt nur dafür, daß das Tuch richtig sitzt. Nun hebt sich sein schlanker, weißer Körper von dem dunklen Holz und dem gelben Erdboden ab. Zwei Henker setzen sich auf seinen Oberkörper, um ihn festzuhalten. Ich denke darüber nach, welche Beklemmung und welchen Schmerz ihm dieses Gewicht verursachen muß. Ein dritter nimmt den rechten Arm und hält mit einer Hand den Unterarm und mit der anderen die Finger fest. Der vierte, der schon den langen, spitzen viereckigen Nagel mit dem großen, flachen, runden Kopf in der Hand hat, prüft, ob das bereits in das Holz gebohrte Loch sich an der dem Handgelenk entsprechenden Stelle, wo Elle und Speiche zusammen treffen, befindet. Es paßt. Der Henker setzt den Nagel an den Puls, hebt den Hammer und führt den ersten Schlag.

Jesus, der die Augen geschlossen hatte, schreit bei diesem Schmerz auf, zuckt zusammen und öffnet weit die in Tränen schwimmenden Augen. Es muß ein schrecklicher Schmerz sein, den er fühlt. Der Nagel dringt ein, zerreißt Muskeln, Adern und Nerven und zerbricht die Knochen.

Maria antwortet auf den Schrei ihres gequälten Sohnes mit einem Stöhnen, das dem Klagen eines geschlachteten Lammes gleicht. Sie krümmt sich vor Schmerz und faßt sich mit den Händen an den Kopf. Jesus gibt nun keinen Laut mehr von sich, um sie nicht zu quälen. Aber die Schläge sind regelmäßig und hart, Eisen auf Eisen – und darunter ist ein lebendiges Glied, das sie empfängt. Die rechte Hand ist angenagelt. Nun kommt die linke. Das Loch entspricht nicht dem Gelenk. Also nehmen sie einen Strick, binden ihn an das linke Gelenk und ziehen daran, bis die Knochen ausgerenkt und die Sehnen und Muskeln und die schon von den Stricken der Gefangennahme wunde Haut zerrissen sind. Auch die andere Hand leidet natürlich darunter, denn durch das Zerren vergrößert sich die Nagelwunde. Nun liegt das Loch gerade zwischen Handfläche und Handgelenk. Sie finden sich damit ab und schlagen den Nagel ein, wo sie können, zwischen dem Daumen und den anderen Fingern, genau in der Mitte der Handfläche. Hier dringt er leichter ein, ist jedoch schmerzhafter, denn er durchtrennt wohl wichtige Nerven, so daß die Finger nun unbeweglich sind, während die Finger der rechten Hand zittern und zucken als Beweis ihrer Beweglichkeit. Doch Jesus schreit nicht mehr. Er stöhnt nur noch heiser mit aufeinandergepreßten Lippen, und Tränen des Schmerzes rinnen zur Erde, nachdem sie zuerst auf das Holz getropft sind.

Nun sind die Füße an der Reihe. Ungefähr zwei Meter oder mehr vom Ende des Kreuzes entfernt ist ein kleiner Keil, kaum ausreichend für einen Fuß. Auf dieses Holz legen sie die Füße, um zu sehen, ob das Maß stimmt. Da es etwas zu weit unten ist und die Füße nicht ganz bis zu dem Keil reichen, ziehen sie den armen Märtyrer an den Knöcheln. Das rauhe Holz des Kreuzes scheuert an den Wunden, verrückt die Dornenkrone, die noch mehr Haare ausreißt und herunterzufallen droht. Ein Henker drückt sie ihm durch einen Schlag mit der Hand wieder auf das Haupt.

Nun rücken die Männer, die auf der Brust Jesu gesessen sind, auf die Knie hinunter, denn Jesus zieht unwillkürlich die Beine an, als er in der Sonne den langen Nagel glänzen sieht, der doppelt so lang und doppelt so dick wie die Nägel für die Hände ist. Sie setzen sich auf seine zerschundenen Knie und drücken auf die armen zerschlagenen Schienbeine, während die beiden anderen das viel schwierigere Unternehmen, einen Fuß über dem anderen anzunageln, beginnen.

Dabei sollen auch die Gelenke an der Fußwurzel aufeinanderliegen. Aber so sehr sie auch achtgeben und die Füße am Knöchel und an den Zehen gegen den Keil drücken, verschiebt sich doch der untere Fuß wegen der Erschütterung durch den Nagel, und sie müssen diesen wieder fast ganz herausziehen. Denn nachdem er durch die weicheren Teile gedrungen ist, muß er nun etwas weiter in der Mitte eingeschlagen werden. Und er ist beim Durchbohren des rechten Fußes schon stumpf geworden. Sie hämmern und hämmern und hämmern … Man hört nichts als den schrecklichen Klang des Hammers auf dem Kopf des Nagels, denn alle auf dem Kalvarienberg sind ganz Auge und Ohr und verfolgen gespannt jede Bewegung und jeden Laut, um sich daran zu ergötzen.

Die leise Klage einer Taube begleitet das harte Klingen des Eisens: das heisere Stöhnen Marias, die sich bei jedem Hammerschlag mehr zusammenkrümmt, als ob der Hammer auf sie, die Mutter-Märtyrerin, niedersausen würde. Und sie ist zu recht von dieser Tortur zutiefst erschüttert. Die Kreuzigung ist furchtbar. Wenn auch die großen Schmerzen denen der Geißelung gleichen, so ist sie doch schrecklicher anzusehen, denn man sieht den Nagel in das lebendige Fleisch eindringen. Aber dafür dauert sie nur kurz, während die Geißelung durch ihre Länge erschöpft hat.

[M.Valtorta notiert:] Für mich sind die Todesangst am Ölberg, die Geißelung und die Kreuzigung die furchtbarsten Augenblicke. Sie enthüllen mir die ganze Qual des Christus. Der Tod ist für mich eine Erleichterung, denn ich sage mir: »Es ist vollbracht.« Doch diese Qualen sind nicht das Ende, sondern der Beginn neuer Leiden.

Nun schleifen sie das Kreuz zu dem Loch; es hüpft auf dem unebenen Boden und schüttelt den armen Gekreuzigten. Beim Aufrichten entgleitet es zweimal ihren Händen und fällt einmal auf die Rückseite, das andere Mal auf die rechte Seite, was Jesus neue schreckliche Schmerzen bereitet, denn die plötzlichen Erschütterungen zerren an den verletzten Gliedern. Als sie aber dann das Kreuz in sein Loch fallen lassen, schwankt es, bevor sie es mit Steinen und Erde befestigen, samt dem an drei Nägeln daran hängenden armen Körper in alle Richtungen, und das Leiden muß unaussprechlich sein. Das ganze Gewicht des Körpers hängt nach vorn und nach unten, und die Löcher der Wunden erweitern sich, besonders das der linken Hand. Auch die Wunden der Füße werden größer und das Blut fließt stärker. Während das Blut der Füße von den Zehen zu Boden tropft und am Balken des Kreuzes entlangrinnt, rinnt das Blut von den Händen, die sich in größerer Höhe befinden als die Schultern, über den Unterarm zu den Achseln und an den Rippen hinunter bis zum Gürtel. Die Dornenkrone verschiebt sich, als das Kreuz schwankt, bevor man es befestigt; denn das Haupt fällt nach hinten, und der Nacken schlägt mit dem dicken dornigen Knoten am Ende der stacheligen Krone auf das Holz. Dann rutscht sie wieder auf die Stirn zurück und kratzt und kratzt erbarmungslos.

Endlich ist das Kreuz befestigt, und es bleibt nur noch der Schmerz, angenagelt zu sein. Man richtet auch die Räuber auf, die, kaum daß sie sich in der Vertikalen befinden, brüllen, als ob sie lebendig gekocht würden, denn die Stricke, die in die Gelenke einschneiden, die Adern dick anschwellen und die Hände schwarz werden lassen, bereiten große Schmerzen. Jesus schweigt. Das Volk aber schweigt nicht mehr, sondern schreit noch teuflischer. Nun hat der Gipfel des Golgota sein Siegeszeichen und seine Ehrenwache. An der höchsten Erhebung das Kreuz Jesu. Zu beiden Seiten die Schächer. Die halbe Zenturie der Soldaten mit ihren Waffen unten rings um den Gipfel, und in diesem Kreis von Bewaffneten die zehn Fußsoldaten, die mit Würfeln um die Kleider der Verurteilten spielen. Zwischen dem Kreuz Jesu und dem rechten Schächer steht Longinus. Es scheint, als würde er dem Märtyrer-König die Ehrenwache halten. Die andere halbe Zenturie ist in Ruhestellung und wartet auf dem Feldweg links und auf dem unteren Platz auf einen Befehl des Adjutanten des Longinus, falls sie zu etwas gebraucht würden. Die Soldaten zeigen fast völlige Teilnahmslosigkeit. Nur ab und zu schaut einer zu den Gekreuzigten empor.

Longinus hingegen betrachtet alles neugierig und interessiert, vergleicht und zieht seine Schlüsse. Er betrachtet die Gekreuzigten, besonders Christus, und die Zuschauer. Seinem forschenden Auge entgeht nicht die geringste Einzelheit. Um besser sehen zu können, beschattet er die Augen mit der Hand, da ihn die Sonne sicher stört. Es ist wirklich eine eigenartige Sonne, rot und gelb wie das Feuer eines Brandes. Dann scheint es, als ob das Feuer plötzlich erlöschen würde, denn eine pechschwarze Wolke steigt hinter den Bergen Judäas auf, zieht mit großer Geschwindigkeit über den Himmel und verschwindet hinter einem anderen Gebirge. Als die Sonne nun wieder erscheint, ist sie so grell, daß das Auge sie kaum erträgt. Als er um sich schaut, sieht er direkt unterhalb des höchsten Punktes Maria, die ihr schmerzgequältes Gesicht zu ihrem Sohn erhebt. Er ruft einen der würfelnden Soldaten und sagt: »Wenn die Mutter und ihr Sohn, der sie begleitet, heraufkommen wollen, sollen sie es tun. Begleite sie und hilf ihr.«

Maria steigt mit Johannes, dem vermeintlichen Sohn, die in den Tuffstein gehauenen Stufen empor, geht durch die Absperrung der Soldaten und an den Fuß des Kreuzes. Aber sie bleibt in geringer Entfernung davon stehen, damit sie von Jesus gesehen wird und ihn auch selbst sieht. Das Volk überhäuft sie sofort mit den schmutzigsten Schmähungen und schließt sie in die Lästerungen gegen ihren Sohn mit ein. Aber sie, mit bebenden und blutleeren Lippen, versucht nur, ihn zu trösten durch ein schmerzliches Lächeln, das Tränen überströmen, die kein noch so starker Wille in den Augen zurückhalten kann.

Das Volk, angefangen von den Priestern, den Schriftgelehrten, den Pharisäern, den Sadduzäern, den Herodianern und ähnlichen, hat seinen Spaß daran, wie bei einem Karussell den steilen Weg hinaufzusteigen, entlang der höchsten Erhebung zu gehen und dann auf der anderen Seite wieder hinunter, oder umgekehrt. Jedesmal, wenn sie am Fuß des Gipfels vorüberkommen, versäumen sie es nicht, dem Sterbenden zu Ehren lästerliche Worte hinaufzuschreien. Die ganze Schändlichkeit und Grausamkeit, der ganze Haß und Wahnsinn, deren die Zunge des Menschen fähig ist, wird hier ausgiebig von diesen höllischen Mäulern demonstriert. Die Erbarmungslosesten sind die Angehörigen des Tempels, unterstützt von den Pharisäern.

»Nun? Du Erlöser des Menschengeschlechtes, warum rettest du dich nicht? Hat dein König Beelzebul dich verlassen? Hat er dich verleugnet?« schreien drei Priester. Und ein Schwarm Juden: »Du, der du vor kaum fünf Tagen mit Hilfe Satans den Vater hast sagen lassen … ha, ha, ha, daß er dich verherrlichen würde, warum erinnerst du ihn nicht daran, daß er sein Versprechen hält?« Drei Pharisäer: »Gotteslästerer! Er sagt, er habe die anderen mit Gottes Hilfe gerettet. Und sich selbst kann er nicht retten! Du willst, daß man dir glaubt? So wirke doch ein Wunder! Du kannst es wohl nicht mehr? Nun haben wir dir die Hände angenagelt und dich entblößt.« Einige Sadduzäer und Herodianer zu den Soldaten: »Vorsicht mit dem Zauber, ihr, die ihr seine Kleider genommen habt! Ein Zeichen der Hölle ist daran.«

Eine Volksmenge schreit: »Steige vom Kreuz, und wir werden dir glauben. Du, du willst den Tempel zerstören … Verrückter! … Sieh ihn dir an, den herrlichen und heiligen Tempel Israels. Er ist unzerstörbar, du Schänder! Und du stirbst.« Andere Priester sagen: »Gotteslästerer! Du willst der Sohn Gottes sein? Dann steige doch von dort herab! Zerschmettere uns, wenn du Gott bist. Wir fürchten dich nicht und spucken auf dich.« Andere gehen vorüber und schütteln die Köpfe: »Er kann nur weinen! Rette dich doch, wenn es wahr ist, daß du der Erwählte bist!« Die Soldaten: »So rette dich doch. Laß Feuer auf diesen Abschaum des Abschaums fallen! Ja, der Abschaum des Reiches seid ihr, jüdische Kanaillen! Tue es, und Rom wird dich auf das Kapitol erheben und dich wie einen Gott verehren!«

Die Priester mit ihrem Gefolge: »Die Arme der Frauen waren zarter als die des Kreuzes, nicht wahr? Aber schau, sie sind schon zu deinem Empfang bereit, deine … (und sie sagen ein häßliches Wort). Ganz Jerusalem steht dir zur Verfügung als Brautjungfer«, und sie pfeifen wie Fuhrleute. Andere werfen Steine: »Verwandle sie in Brot, du Brotvermehrer!« Wieder andere äffen die Hosannarufe des Palmsonntags nach, werfen Zweige und schreien: »Verflucht sei, der da kommt im Namen des Teufels! Verflucht sei sein Reich! Ehre sei Zion, das die Lebenden von ihm befreit!« Ein Pharisäer stellt sich vor das Kreuz, erhebt die Faust, macht ein Horn, um Unheil abzuwenden, und sagt: »„Ich übergebe dich dem Gott des Sinai“, hast du einst gesagt. Nun bereitet dir der Gott des Sinai das höllische Feuer. Warum rufst du nicht Jona, daß er dir den guten Dienst vergilt?« Ein anderer: »Beschädige das Kreuz nicht mit den Schlägen deines Kopfes. Wir brauchen es noch für deine Jünger. Eine ganze Legion von ihnen wird noch an deinem Holz sterben, das schwöre ich dir bei Jahwe! Als erster kommt Lazarus. Wir werden sehen, ob du ihn jetzt noch vor dem Tod rettest!« »Ja! Ja! Gehen wir zu Lazarus! Nageln wir ihn an die andere Seite des Kreuzes!« Wie Papageien machen sie die langsame Redeweise Jesu nach und sagen: »Lazarus, mein Freund, komm heraus! Befreit ihn von den Binden und laßt ihn gehen.« »Nein! Er hat zu Marta und Maria, seinen Weibern, gesagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Ha, ha, ha! Die Auferstehung kann den Tod nicht verjagen, und das Leben stirbt!« »Dort sind Maria und Marta. Fragen wir sie, wo Lazarus ist, und dann gehen wir und holen ihn.«

Sie gehen auf die Frauen zu und fragen sie frech: »Wo ist Lazarus? Im Palast?« Maria Magdalena tritt auf sie zu, während die anderen entsetzt hinter die Hirten flüchten. In ihrem Schmerz kehrt die alte Dreistigkeit aus der Zeit ihrer Sünde wieder und sie ruft: »Geht nur! Ihr werdet im Palast römische Soldaten und fünfhundert Bewaffnete von meinen Feldern antreffen, die euch kastrieren werden wie alte Böcke, die zur Mahlzeit für die Sklaven an den Mühlen bestimmt sind.« »Unverschämte! So redest du mit den Priestern?« »Gotteslästerer! Schamlose! Verfluchte! Dreht euch um! Hinter euch, ich sehe es, lodern schon die Flammen des höllischen Feuers auf!« Die Feiglinge wenden sich tatsächlich erschrocken um, denn Maria sagt dies mit so großer Sicherheit. Und wenn hinter ihnen auch keine Flammen sind, so doch die sehr spitzen Lanzen der Römer. Denn Longinus hat einen Befehl erteilt, und die halbe Zenturie, die bisher inaktiv war, tut nun Dienst, indem sie die ersten, die ihr in den Weg geraten, in die Hinterbacken sticht. Diese fliehen schreiend auseinander, und die halbe Zenturie bleibt, um die beiden Wege abzuriegeln und einen Wall um den Platz zu bilden. Die Juden fluchen, aber Rom ist stärker.

Magdalena läßt ihren Schleier, den sie zurückgeschlagen hatte, um den Beleidigern zu entgegnen, wieder herunter und kehrt an ihren Platz zurück. Auch die anderen Frauen kommen zu ihr zurück. Doch der Räuber zur Linken setzt von seinem Kreuz aus die Beleidigungen fort. Es scheint, als wären alle Flüche der anderen in ihm angestaut, und er speit sie nun aus und fügt noch hinzu: »Rette dich und rette uns, wenn du willst, daß man dir glaubt. Du willst der Christus sein? Ein Irrer bist du! Die Welt gehört den Schlauen, und es gibt keinen Gott. Ich bin da. Das ist sicher, und mir ist alles erlaubt! Gott? … Märchen! Das redet man uns ein, damit wir brav sind. Es lebe unser Ich! Unser Ich allein ist König und Gott!«

Der andere Räuber zur Rechten schaut Maria, die fast zu seinen Füßen steht, wohl noch mehr an als Jesus, weint seit einer Weile und flüstert: »Die Mutter!« Dann sagt er: »Schweig! Fürchtest du nicht einmal jetzt Gott, da du diese Strafe erleidest? Warum beleidigst du ihn, der gut ist? Er leidet noch mehr als wir, und er hat nichts Böses getan.« Doch der Räuber fährt fort mit seinen Flüchen. Jesus schweigt. Erschöpft durch seine Position, durch das Fieber und den Zustand seines Herzens und seiner Atmung als Folge der so heftigen Geißelung und der großen Todesangst, die ihn hat Blut schwitzen lassen, sucht er Erleichterung darin zu finden, daß er sich stärker an die Hände hängt, die Arme anspannt und so etwas Gewicht von den Füßen nimmt. Vielleicht tut er dies auch, um einen Krampf ein wenig abzuschwächen, der schon seine Füße befallen hat und sich in einem Zittern der Muskeln äußert. Aber dasselbe Zittern hat auch die Muskeln der Arme befallen, die in dieser Stellung übermäßig beansprucht sind. Die Hände müssen eiskalt sein, da sie am weitesten oben und nicht mehr durchblutet sind. Das Blut gelangt nur mit Mühe bis zu den Handgelenken, tropft dann aus den Löchern der Nägel und zirkuliert nicht mehr in den Fingern. Besonders die der linken Hand sind schon leichenblaß, reglos und nach innen gekrümmt. Auch die Zehen der Füße lassen ihre Qual erkennen – besonders die großen, deren Nerv vielleicht weniger verletzt ist – da sie sich heben und senken und sich spreizen. Das ganze Leiden des Rumpfes zeigt sich in dem raschen, aber nicht tiefen Atem, der nur ermüdet und keine Erleichterung schafft. Der an sich schon breite und gewölbte Brustkasten – denn der Bau dieses Körpers ist vollkommen – ist nun über die Maßen ausgedehnt durch die Stellung des Körpers und das Lungenödem, das sich gewiß schon gebildet hat. Doch trägt dies nicht dazu bei, die mühevolle Atmung zu erleichtern, und der ganze Unterleib unterstützt sie durch die Bewegungen des Zwerchfells, die jedoch immer schwächer werden. Die Kongestion und die Erstickung nehmen von Minute zu Minute zu, wie man an der zyanotischen Farbe erkennt, die die Fieberröte der Lippen noch betont, und an den blauvioletten Streifen am Hals, entlang den geschwollenen Adern, die sich bis über die Wangen und in Richtung der Ohren und Schläfen ziehen. Die Nase ist spitz und blutleer, die Augen sind eingesunken und umgeben von einem bläulichen Ring – soweit das herabtropfende Blut der Dornenkrone ihn nicht bedeckt. Unter dem linken Rippenbogen sieht man das unregelmäßige, aber heftige Schlagen der Herzspitze, und hie und da das durch einen inneren Krampf ausgelöste starke Zittern des Zwerchfells, das sich in der äußersten Ausdehnung der Haut zeigt, soweit sie sich noch ausdehnen kann an diesem armen verletzten, sterbenden Körper.

Das Antlitz hat schon den Ausdruck, den wir von den Fotografien des Grabtuchs kennen, mit der verunstalteten und auf einer Seite geschwollenen Nase. Auch das wegen der Schwellung auf dieser Seite fast geschlossene rechte Auge vergrößert die Ähnlichkeit noch. Der Mund hingegen ist geöffnet und die Verletzung an der Oberlippe nun von einer Kruste bedeckt. Der durch den Blutverlust, das Fieber und die Sonne verursachte Durst muß sehr groß sein, denn Jesus trinkt mit mechanischen Bewegungen die Tropfen seines Schweißes und seiner Tränen und auch die Blutstropfen, die von der Stirn in den Schnurrbart rinnen, und benetzt damit seine Zunge. Die Dornenkrone erlaubt ihm nicht, das Haupt an das Kreuz anzulehnen, um mit den Armen mehr Kraft anzuwenden und die Füße zu entlasten. Die Nierengegend und das ganze Rückgrat wölben sich nach außen und sind vom Becken an aufwärts losgelöst vom Stamm des Kreuzes, entsprechend dem Trägheitsgesetz, das einen auf diese Weise aufgehängten Körper nach vorne fallen läßt.

Die von dem kleinen Platz vertriebenen Juden hören nicht auf zu beschimpfen, und der unbußfertige Räuber macht mit. Der andere, der nun mit immer größerem Mitleid die Mutter betrachtet und weint, rügt ihn hart, als er hört, daß auch Maria beschimpft wird. »Schweig! Erinnere dich, daß eine Frau dich geboren hat. Und vergiß nicht, daß unsere Mütter um ihre Söhne geweint haben. Es waren Tränen der Scham … weil wir Verbrecher sind. Unsere Mütter sind tot … Ich wünschte, ich könnte die meine um Verzeihung bitten … Aber könnte ich das? Sie war eine Heilige … Ich habe sie getötet durch den Schmerz, den ich ihr zugefügt habe … Ich bin ein Sünder … Wer verzeiht mir? Mutter, im Namen deines sterbenden Sohnes, bitte für mich!«

Die Mutter erhebt einen Augenblick ihr schmerzgequältes Gesicht und sieht diesen Unglücklichen an, der durch die Erinnerung an seine Mutter und die Betrachtung der Mutter Jesu zur Reue gelangt; und es scheint, als liebkose sie ihn mit ihrem Taubenblick. Dismas weint nun stärker. Dies läßt den Hohn der Menge und des Gefährten noch zunehmen. Erstere schreit: »Bravo! Nimm dir die zur Mutter. Dann hat sie zwei Verbrecher als Söhne!« Und der andere ist noch schlimmer: »Sie liebt dich, weil du eine kleinere Ausgabe ihres Vielgeliebten bist.«

Jesus spricht nun zum ersten Mal: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« Dieses Gebet besiegt die letzte Angst des Dismas. Er wagt es nun, Jesus anzusehen, und sagt: »Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst. Es ist gerecht, daß ich leide. Aber gewähre mir Barmherzigkeit und Frieden im anderen Leben. Einmal habe ich dich reden gehört, und töricht wie ich war, habe ich dein Wort abgelehnt. Nun bereue ich es. Ich bereue auch meine Sünden vor dir, Sohn des Allerhöchsten. Ich glaube, daß du von Gott kommst. Ich glaube an deine Macht. Ich glaube an deine Barmherzigkeit. Christus, verzeih mir im Namen deiner Mutter und deines heiligsten Vaters!« Jesus wendet sich um, schaut ihn mit tiefem Mitleid an und hat ein immer noch wunderschönes Lächeln auf seinem armen, gequälten Mund. Er antwortet ihm: »Ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.« Der reuige Schächer beruhigt sich, und da er die Gebete seiner Kinderzeit vergessen hat, wiederholt er wie ein Stoßgebet: »Jesus von Nazaret, König der Juden, erbarme dich meiner. Jesus von Nazaret, König der Juden, ich hoffe auf dich. Jesus von Nazaret, König der Juden, ich glaube an deine Gottheit.«

Der andere flucht weiter. Der Himmel wird immer dunkler. Nun reißen die Wolken nur noch selten auf, um die Sonne scheinen zu lassen. Sie häufen sich in immer dickeren, bleiernen, weißen und grünlichen Schichten, schieben sich übereinander und verteilen sich dann wieder, je nach dem Verhalten eines kalten Windes, der von Zeit zu Zeit über den Himmel fegt, danach über die Erde, und sich dann wieder legt. Und die Atmosphäre ist fast noch unheimlicher, drückender und lebloser wenn er schweigt, als wenn er stark und schneidend weht und pfeift. Das zuerst überaus grelle Licht wird nun ganz fahl. Die Gesichter bekommen ein sonderbares Aussehen. In dem grünlichen Licht unter dem aschgrauen Himmel erscheinen die Profile der Soldaten in ihren zuvor glänzenden und nun matt gewordenen Helmen und Panzern wie aus Stein gemeißelt. Die Juden, in der Mehrzahl braunhäutig mit braunem Haar und Bart, gleichen Ertrinkenden, so fahl sind ihre Gesichter. Die Frauen werden zu Statuen aus bläulich schimmerndem Schnee, denn das Licht verstärkt noch ihre große Blässe.

Auch Jesus scheint auf seltsame Weise bläulich zu werden, als würde die Auflösung schon beginnen, fast als wäre er schon gestorben. Das Haupt beginnt auf die Brust herabzuhängen. Die Kräfte lassen rasch nach. Er zittert trotz des Fiebers, das in ihm brennt. In seiner Schwäche flüstert er den Namen, den er bisher nur in seinem Herzen gesprochen hat: »Mama! Mama!« Er flüstert ihn so leise wie einen Seufzer, als würde ein leichtes Delirium es ihm schon unmöglich machen, das zurückzuhalten, was der Wille nicht preisgeben möchte. Maria streckt jedesmal spontan die Arme aus, als wolle sie ihm zu Hilfe eilen. Das grausame Volk lacht über diese Qualen des Sterbenden und der leidenden Mutter. Die Priester und Schriftgelehrten steigen wieder zu den Hirten hinauf, die sich auf dem unteren Platz befinden. Und da die Soldaten sie zurückdrängen wollen, wehren sie sich und sagen: »Diese Galiläer bleiben hier? Dann bleiben auch wir hier, denn wir müssen uns vergewissern, daß bis zum Ende Gerechtigkeit geübt wird. Und aus der Ferne können wir bei dem eigenartigen Licht nichts erkennen.« Viele fangen nun tatsächlich an, sich über das Licht zu wundern, das die Welt einhüllt, und einige haben Angst. Auch die Soldaten zeigen zum Himmel und auf eine Art Kegel, der aus Schiefer zu sein scheint und sich wie eine Pinie hinter einem Gipfel erhebt. Es scheint eine Wasserhose zu sein. Sie steigt immer höher, und es sieht aus, als ob sie immer schwärzere Wolken hervorbringen würde, fast wie ein Vulkan, der Rauch und Lava speit.

In diesem beängstigenden Dämmerlicht übergibt Jesus seine Mutter Johannes und Johannes seiner Mutter. Er neigt das Haupt, denn Maria ist direkt unter das Kreuz getreten, um ihn besser zu sehen, und sagt: »Frau, siehe da deinen Sohn. Sohn, siehe da deine Mutter.« Marias Gesicht ist noch betrübter nach diesen Worten, die das Testament ihres Jesus sind, ihres Jesus, der seiner Mutter nichts geben kann als einen Menschen, er, der ihr aus Liebe zu den Menschen den aus ihr geborenen Gottmenschen nimmt. Doch die arme Mutter versucht, nur stumm zu weinen … denn sie bringt es nicht fertig, nicht zu weinen. Die Tränen fließen trotz aller Bemühungen, sie zurückzuhalten, auch wenn der Mund dabei unter Qualen lächelt, immer lächelt für ihn, um ihn zu trösten. Die Leiden werden immer größer, während das Licht immer mehr abnimmt.

In diesem bläulichen Licht kommen plötzlich hinter den Juden Nikodemus und Josef hervor und sagen: »Macht Platz!« »Das geht nicht. Was wollt ihr?« entgegnen die Soldaten. »Wir wollen durch. Wir sind Freunde des Christus.« Die Köpfe der Priester fahren herum. »Wer wagt es hier, sich als Freund des Rebellen zu bekennen?« fragen sie entrüstet. Josef erwidert energisch: »Ich, ein erlauchtes Mitglied des Hohen Rates, Josef von Arimathäa, der Älteste, und bei mir ist Nikodemus, Vorsteher der Juden.« »Wer zu dem Rebellen hält, ist selbst ein Rebell.« »Und wer zu den Mördern hält, ist selbst ein Mörder, Eleasar des Hannas. Ich habe als Gerechter gelebt. Nun bin ich alt und dem Tod nahe. Ich will nicht ungerecht werden, während schon der Himmel auf mich herabkommt und mit ihm der ewige Richter.« »Und du, Nikodemus! Ich wundere mich!« »Ich auch. Und nur über eines: daß Israel so verdorben ist, daß es Gott nicht mehr erkennt.« »Du ekelst mich an.« »Dann tritt zur Seite und laß mich durch. Ich verlange nur das.« »Um dich noch mehr zu verunreinigen?« »Wenn ich dadurch nicht unrein geworden bin, daß ich in eurer Nähe war, dann kann mich nichts mehr verunreinigen. Soldat, hier ist der Passierschein und eine Börse für dich.« Und er gibt dem am nächsten stehenden Dekurio einen Beutel und eine Wachstafel. Der Dekurio prüft sie und sagt zu den Soldaten: »Laßt die beiden durch.« Josef und Nikodemus gehen zu den Hirten. Ich weiß nicht, ob Jesus sie in dieser immer größeren Dunkelheit mit den sich im Todeskampf trübenden Augen noch sehen kann. Aber sie sehen ihn und weinen, ohne sich vor den Menschen zu schämen, obgleich sich nun die Schmähungen der Priester über sie ergießen.

Die Leiden werden immer stärker. Der Körper krümmt sich in den ersten Anzeichen des Wundstarrkrampfes, und jedes neue Geschrei der Menge verschlimmert dies noch. Der Tod der Nerven und der Muskeln in den gemarterten Gliedern greift nun über auf den Rumpf, und die Atmung wird immer schwieriger, die Kontraktionen des Zwerchfells immer schwächer und die Herztätigkeit immer unregelmäßiger. Das Antlitz Jesu wechselt zwischen flammender Röte und der grünlichen Blässe eines an Ausblutung Sterbenden. Der Mund bewegt sich immer mühsamer, denn die überbeanspruchten Nerven und Muskeln des Halses und des Kopfes, die so viele Male als Hebel für den ganzen Körper dienen und sich gegen den Querbalken des Kreuzes stemmen mußten, übertragen nun den Krampf auf den Kiefer. Die von dem angestauten Blut in den Schlagadern geschwollene Kehle muß schmerzen und ihr Ödem auch auf die Zunge übertragen. Sie erscheint verdickt und bewegt sich nur langsam. Die Wirbelsäule wölbt sich immer stärker nach vorne – auch dann, wenn die Kontraktionen des Starrkrampfes sie nicht zu einem vollständigen Bogen vom Hals bis zu den Hüften spannen, wobei dann nur noch diese beiden Extreme den Stamm des Kreuzes berühren – denn die Glieder werden durch das Gewicht des toten Fleisches immer schwerer. Die Leute sehen all dies nur schlecht oder undeutlich, denn der Himmel ist nun ein dunkles Aschgrau. Nur wer am Fuß des Kreuzes steht, kann es erkennen. Auf einmal fällt Jesus vor und nach unten, so als sei er schon tot. Er keucht nicht mehr. Sein Kopf hängt herunter und der Körper hat sich von den Hüften an aufwärts ganz vom Kreuz gelöst und bildet einen Winkel zum Querbalken.

Maria schreit auf: »Er ist tot!« Ein tragischer Schrei, der durch die Dunkelheit hallt. Jesus scheint wirklich tot zu sein. Der Schrei einer anderen Frau antwortet, und ich sehe ein Durcheinander in der Gruppe der Frauen. Dann entfernen sich etwa zehn Personen, die etwas tragen. Aber ich kann nicht sehen, wer sich entfernt. Das trübe Licht ist zu schwach. Es scheint, als ob alles in eine sehr dichte Wolke vulkanischer Asche gehüllt wäre. »Das ist nicht möglich!« schreien die Priester und die Juden. »Man versucht nur, uns zu täuschen, damit wir fortgehen. Soldat, stich ihn mit der Lanze. Das ist eine gute Arznei, um ihm die Stimme wiederzugeben.« Und da die Soldaten es nicht tun, fliegen Steine und Erdschollen auf das Kreuz und treffen den Märtyrer und die Harnische der Römer. Die Arznei, wie die Juden es ironisch nennen, wirkt das Wunder. Gewiß hat der eine oder andere Stein genau getroffen, vielleicht die Wunde einer Hand oder sogar das Haupt Jesu, denn sie haben nach oben gezielt. Jesus stöhnt mitleiderregend und kommt wieder zum Bewußtsein. Der Oberkörper beginnt erneut mühsam zu atmen, und der Kopf wendet sich von links nach rechts auf der Suche nach einer Position, die weniger schmerzt, doch er findet sie nicht und vermehrt nur die Schmerzen. Mit großer Mühe stützt Jesus sich noch einmal auf die gequälten Füße – nur in seinem Willen findet er die Kraft dazu, nur darin – richtet sich am Kreuz auf, als wäre er gesund und ganz bei Kräften, erhebt das Antlitz und betrachtet mit weit offenen Augen die Welt zu seinen Füßen, die ferne Stadt, ein kaum sichtbarer weißer Schimmer in der Dunkelheit, und den schwarzen Himmel, von dem alles Blau und jede Spur von Licht verschwunden ist. Durch die Kraft seines Willens und in der Not seiner Seele überwindet Jesus das Hindernis des versteiften Kiefers, der verdickten Zunge und der ödematösen Kehle und ruft mit lauter Stimme zu diesem verschlossenen, undurchdringlichen, niedrigen Himmel, der einer riesigen dunklen Schiefertafel gleicht, hinauf: »Eloï, Eloï, lema sabachtani!«

Jesus muß sich sterben und absolut vom Himmel verlassen fühlen, wenn er mit einer solchen Stimme bekennt, daß ihn der Vater verlassen hat. Das Volk lacht und verspottet ihn. Es schmäht: »Gott weiß mit dir nichts anzufangen. Die Dämonen sind von Gott verflucht.« Andere rufen: »Nun werden wir sehen, ob Elija, den er ruft, ihn rettet.« Und wieder andere: »Gebt ihm etwas Essig, damit er gurgeln kann. Das ist gut für die Stimme! Elija oder Gott – denn es ist nicht sicher, wen der Irre ruft – ist weit entfernt. Da braucht es eine starke Stimme, damit man gehört wird«, und sie lachen wie Hyänen oder Dämonen. Aber kein Soldat gibt Essig, und niemand kommt vom Himmel, um zu trösten. Es ist die einsame, totale, grausame, auch übernatürlich grausame Agonie des großen Opfers. Die Flut trostlosesten Schmerzes, die ihn schon in Getsemani überwältigt hat, kehrt wieder, und mit ihr die Wogen der Sünden der ganzen Welt, die den unschuldigen Schiffbrüchigen mit ihrer Bitterkeit überfluten. Vor allem kehrt das Gefühl wieder – das ihn mehr kreuzigt als das Kreuz selbst und mehr quält als jede andere Qual – daß Gott ihn verlassen hat und das Gebet nicht zu ihm aufsteigt …

Es ist die letzte Qual. Die Qual, die den Tod beschleunigt, da sie die letzten Tropfen Blut aus den Poren preßt und die letzten Fasern des Herzens zerreißt und herbeiführt, was durch die erste Erkenntnis dieser Verlassenheit begonnen hat: den Tod. Denn daran ist mein Jesus vor allem gestorben, o Gott, der du ihn unseretwegen geschlagen hast! Was wird aus dem Menschen, wenn du ihn verläßt, wenn du ihn verlassen hast? Er verliert den Verstand oder er stirbt. Jesus konnte den Verstand nicht verlieren, denn seine Intelligenz war göttlich; und da die Intelligenz geistig ist, siegte sie über das totale Trauma des von Gott Getroffenen. Also starb er: der Tote, der heiligste Tote, der unschuldigste Tote. Tot, er, der das Leben war. Getötet durch das Verlassensein von dir und von unseren Sünden. Die Dunkelheit wird immer undurchdringlicher. Jerusalem verschwindet gänzlich. Selbst der Kalvarienberg scheint sich aufzulösen. Nur der Gipfel ist zu sehen, als würde ihn die Finsternis tragen, um das einzige und letzte verbleibende Licht zu sammeln und es wie ein Opfer mit seiner göttlichen Siegesbeute auf einen See von flüssigem Onyx zu legen, damit es von der Liebe und vom Haß gesehen werden kann.

Und aus dem Licht, das nicht mehr Licht ist, erklingt die klagende Stimme Jesu: »Mich dürstet!« Es weht auch wirklich ein Wind, der selbst die Gesunden durstig werden läßt. Ein ständiger Wind, der jetzt stürmisch, voller Staub, kalt und beängstigend ist. Ich denke daran, welchen Schmerz dieser Wind mit seinem heftigen Wehen der Lunge, dem Herzen, dem Rachen und den eiskalten, gequälten verwundeten Gliedern Jesu bereiten muß. Alles hat sich verschworen, den Märtyrer zu quälen. Ein Soldat geht zu einem Gefäß, in das die Gehilfen des Henkers Essig und Galle getan haben, die mit ihrer Bitterkeit den Speichelfluß der Hingerichteten vermehren sollen. Er nimmt den in die Flüssigkeit getauchten Schwamm, steckt ihn auf ein dünnes, aber steifes Rohr, das schon dafür bereitsteht, und reicht ihn dem Sterbenden. Jesus wendet sich begierig dem Schwamm zu. Er gleicht einem hungernden Kind, das die Brust der Mutter sucht. Maria, die es sieht und gewiß ebenso denkt, lehnt sich an Johannes und seufzt: »Oh, und ich kann ihm nicht einmal eine Träne geben … Oh, meine Brust, warum hast du keine Milch? Oh, mein Gott, warum, warum verläßt du uns so? Ein Wunder für mein Kind! Wer hebt mich hinauf, damit ich ihn mit meinem Blut tränke, da ich keine Milch habe … ?«

Jesus, der gierig die scharfe, bittere Flüssigkeit eingesaugt hat, wendet angewidert den Kopf ab. Die Flüssigkeit muß vor allem eine ätzende Wirkung auf die wunden und rissigen Lippen haben. Er zieht sich zurück, sinkt in sich zusammen, gibt auf. Das ganze Gewicht des Körpers fällt nun vor und auf die Füße. Und die durchbohrten Hände und Füße müssen den furchtbaren Schmerz erleiden, daß unter dem Gewicht des aufgegebenen Körpers ihre Wunden auseinanderklaffen und sich vergrößern. Keine Bewegung mehr, um diesen Schmerz zu lindern. Der Leib ist vom Becken an aufwärts vom Kreuz losgelöst und bleibt so. Der Kopf hängt so schwer nach vorn, daß der Hals an drei Stellen ausgehöhlt zu sein scheint, an der Kehle und rechts und links des Kopfwender-Muskels. Das Atmen wird immer beschwerlicher und stockt von Zeit zu Zeit. Es ist schon mehr ein unterbrochenes Röcheln als ein Atmen. Ab und zu bringt ein schmerzlicher Hustenanfall einen leicht rosafarbenen Schaum auf die Lippen. Der Abstand zwischen dem Ein- und Ausatmen wird immer länger. Der Unterleib ist schon reglos. Nur die Brust hebt sich noch langsam und mühsam … Die Lungenlähmung nimmt unaufhaltsam zu. Immer schwächer, wie eine kindliche Klage, erklingt der Ruf: »Mama!« Und die Arme flüstert: »Ja, mein Kleinod, ich bin hier!« Als sich ihm die Augen trüben, sagt er: »Mama, wo bist du? Ich kann dich nicht mehr sehen. Hast auch du mich verlassen?« Und es sind keine Worte mehr, sondern nur noch ein kaum hörbares Flüstern für den, der mehr mit dem Herzen als mit den Ohren jeden Seufzer des Sterbenden vernimmt. Und Maria antwortet: »Nein, nein, Sohn! Ich verlasse dich nicht! Höre mich, Lieber … Die Mama ist hier, hier ist sie … und ihr einziges Leid ist, daß sie nicht dorthin kommen kann, wo du bist … « Es ist herzzerreißend … und Johannes weint ganz offen. Jesus muß dieses Weinen hören, aber er sagt nichts. Ich nehme an, dass der eintretende Tod ihn wie im Delirium reden läßt, so daß er nicht mehr weiß, was er sagt, und nicht mehr den mütterlichen Trost und die Liebe des Lieblingsjüngers empfinden kann.

Longinus hat unbemerkt seine Ruhestellung mit den über der Brust verschränkten Armen und dem etwas vorgestellten Bein – einmal das eine, einmal das andere, um das lange Warten im Stehen etwas zu erleichtern – aufgegeben. Er steht nun stramm, die linke Hand am Schwert, die rechte gerade an der Seite, als ob er an den Stufen des kaiserlichen Thrones stehen würde, und will kein Mitleid zeigen. Aber sein Gesicht verändert sich in dem Bemühen, seine Rührung zu unterdrücken, und in seinen Augen glänzen Tränen, die nur seine eiserne Disziplin zurückhalten kann. Die anderen, die würfelspielenden Soldaten, haben aufgehört, sind aufgestanden, haben ihre Helme, die ihnen als Würfelbecher gedient haben, wieder aufgesetzt und stehen nun schweigend und in Habachtstellung in einer Gruppe bei den aus dem Tuffstein gehauenen Stufen. Die übrigen sind bereits im Dienst und können ihre Stellung nicht ändern. Sie gleichen Statuen. Doch einer, der am nächsten steht und die Worte Marias hört, murmelt etwas zwischen den Zähnen und schüttelt den Kopf. Tiefes Schweigen.

Dann ganz klar und deutlich in der totalen Finsternis das Wort: »Es ist vollbracht.« Der Sterbende röchelt immer stärker, und der Abstand zwischen einem Röcheln und dem anderen wird immer länger. Die Zeit verrinnt in diesem angstvollen Rhythmus. Das Leben kehrt zurück, wenn das rauhe Atmen des Sterbenden die Luft erfüllt … Das Leben schwindet, wenn man diesen schmerzlichen Klang nicht mehr hört. Man leidet, wenn man ihn hört … Man leidet, wenn man ihn nicht hört … Man sagt: »Genug dieser Leiden!« und man sagt: »O Gott, es wird doch nicht der letzte Seufzer sein!« Die Marien weinen alle, das Haupt an die Erde des Hanges gelehnt. Und man hört ihr Weinen deutlich, denn das ganze Volk schweigt nun, um das Keuchen des Sterbenden zu vernehmen. Wieder eine tiefe Stille. Dann, mit unendlicher Sanftmut und wie ein flehentliches Gebet, die Bitte: »Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist!«

Und wieder Schweigen. Auch das Röcheln wird leiser. Kaum ein Hauch vom Hals zu den Lippen. Dann schließlich der letzte Krampf Jesu. Ein furchtbarer Krampf, der den mit den drei Nägeln an das Holz gehefteten Körper losreißen zu wollen scheint, läuft dreimal von den Füßen bis zum Kopf und durch alle die armen, gequälten Nerven, hebt dreimal den Unterleib auf unnatürliche Art und läßt ihn dann wieder sinken; nachdem er ihn aufgebläht hat wie bei einer Verstimmung der Eingeweide, fällt er zurück und sinkt ein, als wäre er leer. Den Oberkörper hebt er, bläht ihn auf und zieht ihn dann wieder so heftig zusammen, daß die Haut zwischen den stark hervortretenden Rippen verschwindet und die Geißelwunden sich erneut öffnen. Das Haupt wird einmal, zweimal, dreimal heftig zurückgeworfen und schlägt hart gegen das Holz. Alle Gesichtsmuskeln verkrampfen sich und ziehen sich zusammen, was noch die Verzerrung des Mundes nach rechts betont. Die Augen sind stark geweitet, und man sieht die Augäpfel kreisen und die Sklera erscheinen. Der ganze Körper spannt sich an, und beim letzten der drei Krämpfe ist er ein gespannter, zitternder, furchtbar anzusehender Bogen. Dann zerreißt ein gewaltiger, für diesen erschöpften Körper unvorstellbarer Schrei die Stille, der »große Schrei«, von dem die Evangelien berichten und der die erste Hälfte des Wortes »Mama« ist … Und dann nichts mehr …

Das Haupt fällt wieder auf die Brust, der Körper nach vorn. Das Zittern hört auf, der Atem ebenfalls. Jesus ist verschieden.

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Die Welt antwortet auf den Schrei des Getöteten mit einem furchterregenden Getöse. Es scheint, als würden Tausende von Riesenmäulern ein einziges Brüllen ausstoßen. Und über diesem schrecklichen Akkord der ohrenbetäubende Lärm der einzelnen Blitze, die in alle Richtungen über den Himmel und auf die Stadt, den Tempel und die Menge herniederfahren … Es müssen Menschen vom Blitz erschlagen worden sein, denn das Volk ist direkt betroffen. Die Blitze sind das einzige sporadische Licht, das mir erlaubt, zu sehen. Und dann plötzlich, während die Entladungen der Blitze noch andauern, wird die Erde von einem zyklonartigen Wirbelsturm geschüttelt. Erdbeben und Sturm verbinden sich zu einer apokalyptischen Strafe für die Gotteslästerer. Der Gipfel des Golgota bebt und wankt wie ein Teller in der Hand eines Irren bei den heftigen kurzen oder auch wellenartigen Stößen, die die drei Kreuze derart schütteln, daß man glaubt, sie müßten umfallen. Longinus, Johannes und die Soldaten halten sich fest, wo sie können und wie sie können, um nicht umzufallen. Johannes umfängt mit einem Arm das Kreuz und hält mit dem anderen Maria, die sich in ihrem Schmerz und wegen des Schwankens an seine Brust fallen läßt. Die anderen Soldaten, besonders die auf der steil abfallenden Seite, haben sich in die Mitte geflüchtet, um nicht über den Fels hinabzustürzen. Die Räuber schreien vor Schreck, die Menge schreit noch lauter und möchte fliehen, aber sie kann nicht. Einer fällt über den anderen, sie treten sich, stürzen in die Risse des Erdbodens, verletzen sich und rollen den Hang hinunter, wie von Sinnen. Dreimal wiederholen sich Erdbeben und Sturmwind; dann herrscht die vollkommene Reglosigkeit einer toten Welt. Nur Blitze, auf die jedoch kein Donner folgt, fahren noch über den Himmel und beleuchten die Szene der in alle Richtungen fliehenden Juden. Sie fliehen, raufen sich die Haare, strecken die Hände vor sich aus oder zum Himmel, den sie bis jetzt verachtet haben und nun fürchten. Ein Lichtschimmer durchdringt die Finsternis und läßt mich zusammen mit den lautlosen magnetischen Blitzen erkennen, dass viele am Boden liegen: tot oder bewußtlos, ich weiß es nicht. Ein Haus brennt innerhalb der Mauern, und die Flammen steigen senkrecht auf in der ruhigen Luft und bilden einen feurigroten Punkt in dem grüngrauen Dunst.

Maria hebt das Haupt von der Brust des Johannes und schaut zu ihrem Jesus auf. Sie ruft ihn, denn sie kann bei dem schwachen Licht mit ihren armen Augen voller Tränen nur schlecht sehen. Dreimal ruft sie: »Jesus! Jesus! Jesus!« Es ist das erste Mal, daß sie ihn beim Namen ruft, seit sie auf dem Kalvarienberg ist. Endlich sieht sie ihn im Licht eines Blitzes, der eine Art Krone über dem Gipfel des Golgota bildet. Reglos, ganz nach vorn hängend, mit so tief und zur rechten Seite geneigtem Haupt, daß es mit der Wange die Schulter und mit dem Kinn die Rippen berührt, und sie versteht. Sie streckt die in der dunklen Luft zitternden Arme aus und schreit:

»Mein Sohn! Mein Sohn! Mein Sohn!« Dann horcht sie … Sie hat den Mund geöffnet, als wollte sie auch mit diesem hören, wie sie auch die Augen weit geöffnet hat, um zu sehen, zu sehen … Sie kann nicht glauben, daß ihr Sohn nicht mehr ist … Johannes, der ebenfalls geschaut und gelauscht und verstanden hat, daß alles zu Ende ist, umarmt Maria und versucht, sie wegzuführen mit den Worten: »Er leidet nicht mehr.« Doch bevor der Apostel den Satz beendet hat, befreit sich Maria, die nun auch verstanden hat, aus seinem Arm, dreht sich um, krümmt sich fast bis zum Boden, schlägt die Hände vor die Augen und schreit: »Ich habe keinen Sohn mehr!« Dann wankt sie und würde fallen, wenn Johannes sie nicht auffangen und an sein Herz drücken würde. Er setzt sich auf den Boden, um sie besser halten zu können, bis die Marien, die nun nicht mehr von dem oberen Ring der Bewaffneten zurückgehalten werden, den Apostel bei der Mutter ablösen. Denn seit die Juden geflohen sind, stehen die Römer alle zusammen auf dem unteren Platz und machen ihre Kommentare über das Vorgefallene.

Magdalena setzt sich an die Stelle, an der Johannes gesessen ist, und nimmt Maria fast auf den Schoß, hält sie in den Armen an ihrer Brust, küßt das blutleere, an die barmherzige Schulter gelehnte Gesicht. Marta und Susanna befeuchten ihr mit einem in Essig getauchten Schwamm und einem Tuch die Schläfen und die Nasenlöcher, während die Schwägerin Maria die Hände küßt und sie verzweifelt beim Namen ruft; und als Maria die Augen öffnet und benommen vor Schmerz um sich schaut, sagt sie: »Kind, mein liebes Kind, hör zu … Sage mir, daß du mich siehst … Ich bin deine Maria … Schau mich nicht so an … !« Und als das erste Schluchzen aus der Kehle Marias dringt und die ersten Tränen fallen, sagt sie, die gute Maria des Alphäus: »Ja, ja, weine nur … Hier bei mir, wie bei einer Mutter, mein armes, heiliges Kind!« Als sie sagen hört: »Oh, Maria! Maria, hast du gesehen?«, da stöhnt sie: »Ja, ja … aber … aber Kind … Oh, Kind … !« Sie weiß nichts anderes zu sagen und weint, die alte Maria. Ein trostloses Weinen, in das alle anderen einstimmen, also Marta und Maria, die Mutter des Johannes und Susanna. Die anderen frommen Frauen sind nicht mehr da. Ich nehme an, daß sie fortgegangen sind, und ebenso die Hirten, als man den Schrei der Frau gehört hat …

Die Soldaten schwatzen miteinander. »Hast du die Juden gesehen? Nun haben sie aber Angst bekommen.« »Sie haben sich an die Brust geschlagen.« »Die Priester sind am meisten erschrocken.« »Welch ein Schreck! Ich habe schon andere Erdbeben erlebt, aber so eines noch nie. Sieh nur, der Boden ist voller Risse.« »Dort ist ein Teil der langen Straße abgerutscht. »Dort unten liegen Leichen.« »Laß sie nur. Einige Schlangen weniger!« »Oh, noch ein Brand! Auf dem Feld … «

»Aber ist er wirklich tot?« »Siehst du es denn nicht? Hast du noch Zweifel?« Josef und Nikodemus kommen hinter dem Felsen hervor. Sicher haben sie sich dorthin in den Schutz des Berges geflüchtet, um sich vor den Blitzen zu retten. Sie gehen zu Longinus: »Wir wollen den Leichnam haben.« »Nur der Prokonsul kann das erlauben. Geht und beeilt euch, denn ich habe gehört, daß die Juden zum Prätorium gehen wollten, um das Zerbrechen der Knochen zu fordern. Ich möchte nicht, daß dies geschieht.« »Woher weißt du das?« »Eine Meldung des Fähnrichs. Geht. Ich warte.« Die beiden eilen den steilen Weg hinunter und verschwinden. Nun begibt sich Longinus zu Johannes und sagt leise etwas zu ihm, was ich nicht verstehe. Dann läßt er sich von einem Soldaten eine Lanze reichen. Er schaut die Frauen an, die sich um Maria bemühen, die langsam wieder zu Kräften kommt. Sie drehen alle dem Kreuz den Rücken zu.

Longinus stellt sich vor das Kreuz, zielt gut und stößt zu. Die breite Lanze dringt tief von unten nach oben und von rechts nach links ein. Johannes kämpft mit sich zwischen dem Wunsch zu sehen und der Angst zu sehen und wendet einen Augenblick das Gesicht ab. »Es ist geschehen, Freund«, sagt Longinus und fügt hinzu: »Besser so, wie bei einem Ritter. Und ohne die Gebeine zu zerbrechen … Er war wirklich ein Gerechter!« Aus der Wunde quillt viel Wasser und kaum ein wenig Blut, das schon gerinnt. Quillt, habe ich gesagt. Es rinnt nur langsam aus dem glatten reglosen Schnitt, der sich öffnen und schließen würde, wenn der Atem den Brustkorb noch bewegen würde …

Während der tragische Anblick des Kalvarienberges unverändert bleibt, hole ich Josef und Nikodemus ein, die auf einer Abkürzung hinuntersteigen, um rascher ans Ziel zu gelangen. Sie sind beinahe am Fuß des Berges angekommen, als sie Gamaliël begegnen. Einem ungekämmten Gamaliël, ohne Kopfbedeckung, ohne Mantel, das herrliche Gewand mit Erde beschmutzt und von Dornen zerrissen. Einem Gamaliël, der eilenden Schrittes und keuchend hinaufläuft, die Hände in den schütteren, stark ergrauten Haaren, die ihn als alten Mann kennzeichnen. Sie reden ohne stehenzubleiben. »Gamaliël! Du?« »Du, Josef? Du verläßt ihn?« »Nein. Aber weshalb bist du hier? Und in diesem Zustand … ?« »Furchtbares ist geschehen! Ich war im Tempel! Das Zeichen! Der Tempel ist aus den Fugen geraten! Der Vorhang aus Purpur und Hyazinth ist zerrissen! Das Allerheiligste ist enthüllt! Der Fluch ist über uns!« Während er gesprochen hat, ist er weitergelaufen, wie von Sinnen über den Beweis. Die beiden schauen ihm nach … Sie schauen sich an und sagen dann gleichzeitig: »„Diese Steine werden bei meinen letzten Worten erbeben.“ Er hatte es ihm versprochen … !« Sie beschleunigen ihre Schritte in Richtung zur Stadt. Über die Felder zwischen dem Berg und den Mauern und noch weiter weg irren in der noch dunstigen Luft Menschen mit verstörten Gesichtern … Rufe, Klagen, Weinen … Die einen sagen: »Sein Blut hat Feuer regnen lassen!« Andere: »Zwischen den Blitzen ist Jahwe erschienen und hat den Tempel verflucht!« Wieder andere stöhnen: »Die Gräber! Die Gräber!« Josef packt einen, der den Kopf an die Mauer schlägt, ruft ihn beim Namen und zieht ihn mit sich, während er in die Stadt hineingeht: »Simon, aber was sagst du da?« »Laß mich! Auch du bist ein Toter! Alle sind tot! Alle sind herausgekommen! Und alle verfluchen mich!« »Er ist verrückt geworden«, sagt Nikodemus. Sie lassen ihn laufen und gehen weiter zum Prätorium.

Die Stadt ist eine Beute des Schreckens. Herumirrende Menschen schlagen sich an die Brust. Andere springen zurück oder wenden sich entsetzt um, wenn sie hinter sich eine Stimme oder einen Schritt hören. Unter einem der vielen finsteren Bögen läßt die Gestalt des Nikodemus in seinem weißen Wollgewand – denn um rascher gehen zu können, hat er auf dem Golgota den dunklen Mantel abgelegt – einen fliehenden Pharisäer einen Schrecksschrei ausstoßen. Als er dann erkennt, daß es Nikodemus ist, hängt er sich in einem sonderbaren Gefühlserguß an seinen Hals und schreit: »Verfluche mich nicht! Meine Mutter ist mir erschienen und hat mir gesagt: „Sei verflucht in alle Ewigkeit“.« Dann wirft er sich zu Boden und stöhnt: »Ich habe Angst! Ich habe Angst!« »Sind sie denn alle verrückt geworden?« sagen die beiden. Das Prätorium ist erreicht. Erst hier erfahren Josef und Nikodemus den Grund so großen Schreckens, während sie darauf warten, vom Prokonsul empfangen zu werden. Viele Gräber haben sich während des Erdbebens geöffnet, und es gibt einige, die schwören, die Skelette herauskommen gesehen zu haben; einen Augenblick lang haben sie wieder menschliches Aussehen angenommen, die Schuldigen des Gottesmordes angeklagt und sie verflucht.

Ich lasse sie im Atrium des Prätoriums, in das die beiden Freunde Jesu, ohne törichten Widerwillen und Furcht, sich zu verunreinigen, eintreten, kehre zum Kalvarienberg zurück und hole Gamaliël ein, der nun völlig erschöpft die letzten Meter zum Gipfel hinaufsteigt. Dabei schlägt er sich unablässig an die Brust, und als er den unteren Platz erreicht, wirft er sich in seiner ganzen weißen Länge auf den gelblichen Erdboden und klagt: »Das Zeichen! Das Zeichen! Sage mir, daß du mir verzeihst! Ein Seufzer, nur ein Seufzer, um mir zu sagen, daß du mich hörst und mir verzeihst.« Ich verstehe, daß Gamaliël glaubt, Jesus sei noch am Leben. Er glaubt es so lange, bis ein Soldat ihn mit der Lanze berührt und sagt: »Steh auf und sei still. Es nützt nichts mehr. Du hättest es dir früher überlegen sollen. Er ist tot. Und ich, ein Heide, sage dir: Dieser, den ihr gekreuzigt habt, war wahrhaft Gottes Sohn!« »Tot? Tot bist du? Oh!« Gamaliël erhebt das zutiefst erschrockene Antlitz und versucht, im Dämmerlicht den Gipfel zu erkennen. Er sieht wenig, aber genug um zu begreifen, daß Jesus tot ist. Er sieht die fromme Gruppe, die Maria tröstet, den weinenden Johannes links vom Kreuz und rechts Longinus, der gerade und feierlich in respektvoller Haltung dasteht. Gamaliël richtet sich auf den Knien auf, breitet die Arme aus und weint: »Du bist es gewesen! Du bist es gewesen! Nun kann uns nicht mehr verziehen werden. Wir haben dein Blut über uns herabgerufen. Und es schreit zum Himmel, und der Himmel verflucht uns … Oh, aber du warst die Barmherzigkeit! … Ich sage dir, ich, der vernichtete Rabbi von Judäa: „Dein Blut komme über uns, aus Erbarmen.“ Besprenge uns damit! Denn nur dies kann uns Vergebung erlangen … « Er weint. Dann bekennt er mit leiserer Stimme seine geheime Qual: »Ich habe das verlangte Zeichen … Aber Jahrhunderte über Jahrhunderte geistiger Blindheit liegen auf meinen inneren Augen, und gegen meinen jetzigen Willen erhebt sich wieder die Stimme meines stolzen Denkens von gestern … Habe Erbarmen mit mir! Licht der Welt, sende deinen Strahl in die Finsternis, die dich nicht begriffen hat. Ich bin der alte Jude, der immer dem treu geblieben ist, was er für Gerechtigkeit hielt und was in Wirklichkeit Irrtum war. Nun bin ich ein ödes Land, ohne einen der alten Bäume des alten Glaubens, ohne Samen oder Halme des neuen Glaubens. Ich bin eine dürre Wüste. Wirke du das Wunder, und laß eine Blume sprießen, die deinen Namen trägt, in diesem armen Herzen des alten hartnäckigen Israeliten. Durchdringe du, Befreier, diese meine armen Gedanken, die Gefangene der Formeln sind. Jesaja sagt es: „Er bezahlte für die Sünder und nahm die Schuld der vielen auf sich.“ Oh, auch meine, Jesus von Nazaret … « Er erhebt sich, betrachtet das Kreuz, das immer klarer erkennbar ist im zunehmenden Licht, und geht dann gebeugt, gealtert, vernichtet weg.

Auf dem Kalvarienberg kehrt das kaum vom Weinen Marias unterbrochene Schweigen wieder. Die beiden Räuber, erschöpft vor Angst, sprechen nicht mehr. Josef und Nikodemus kommen eilenden Schrittes zurück und sagen, daß sie von Pilatus die Erlaubnis haben. Aber Longinus, der ihnen nicht ganz traut, schickt einen Soldaten zu Pferd zum Prokonsul, auch um zu erfahren, was er mit den beiden Räubern tun soll. Der Soldat geht und kehrt bald darauf im Galopp zurück mit dem Befehl, Jesus zu übergeben und den beiden anderen die Gebeine zu zerbrechen, gemäß dem Wunsch der Juden. Longinus ruft die vier Henkersknechte, die sich feige hinter den Felsen verkrochen haben und immer noch vor Angst über das Vorgefallene zittern, und befiehlt ihnen, die beiden Räuber mit Keulenschlägen zu töten. Dies geschieht ohne Protest bei Dismas, der, als ihn ein Keulenschlag auf das Herz trifft, nachdem man ihm schon die Knie zerschlagen hat, gerade röchelnd den Namen Jesu ausspricht. Der andere Räuber hingegen stößt schreckliche Flüche aus. Ihr Röcheln ist schaurig. Die vier Henker wollen sich nun auch mit Jesus befassen und ihn vom Kreuz abnehmen. Doch Josef und Nikodemus erlauben es nicht. Auch Josef legt seinen Mantel ab und fordert Johannes auf, dasselbe zu tun und die Leiter zu halten, während die beiden mit Hebeln und Zangen hinaufsteigen. Maria erhebt sich zitternd, gestützt von den Frauen, und nähert sich dem Kreuz.

Die Soldaten ziehen ab, da ihre Aufgabe beendet ist. Longinus wendet sich, bevor er den unteren Platz verläßt, noch einmal auf seinem Rappen um und betrachtet Maria und den Gekreuzigten. Dann hört man das sich immer weiter entfernende Klappern der Hufe auf den Steinen und das Klirren der Waffen, die gegen die Harnische schlagen. Der linke Nagel ist herausgezogen, und der Arm fällt am Körper herunter, der nun halb losgelöst herabhängt. Die beiden bitten Johannes, ebenfalls heraufzusteigen und die Leitern den Frauen zu überlassen. Johannes steht nun auf der Leiter, wo zuvor Nikodemus war, legt sich den Arm Jesu um den Hals und hält ihn so auf seiner Schulter; mit einem Arm umfaßt er seine Mitte und hält mit der anderen Hand die linke Hand Jesu an den Fingerspitzen, um die furchtbare klaffende Wunde nicht zu berühren. Als der Nagel an den Füßen entfernt ist, hat Johannes große Mühe, den Leichnam seines Meisters zwischen dem Kreuz und seinem Körper zu halten. Maria setzt sich schon mit dem Rücken zum Kreuz an seinen Fuß und ist bereit, Jesus in ihrem Schoß zu empfangen. Doch die Loslösung des rechten Armes ist sehr schwierig. So sehr sich Johannes auch bemüht, hängt der Körper doch sehr weit vor und der Kopf des Nagels bohrt sich in die Hand hinein. Da die beiden Barmherzigen diese nicht noch mehr verwunden wollen, müssen sie sich viel Mühe geben. Endlich gelingt es ihnen, den Nagel mit der Zange zu fassen und ihn ganz langsam herauszuziehen. Johannes hält Jesus, dessen Kopf über seine Schulter hängt, immer noch unter den Achseln, während Nikodemus die Schenkel und Josef die Knie umfaßt. So steigen sie vorsichtig die Leiter hinunter. Unten angelangt wollen sie den Leichnam auf ein Leinentuch legen, das sie auf ihren Mänteln ausgebreitet haben.

Doch Maria will ihren Sohn haben. Sie hat ihren Mantel geöffnet und ihn auf einer Seite ausgebreitet, und sie hat auch ihre Knie etwas geöffnet, so dass sie für ihren Jesus eine Wiege bilden. Während die Jünger sich umdrehen, um ihr den Sohn zu geben, fällt das dornengekrönte Haupt nach hinten und die Arme hängen zur Erde und würden mit den verwundeten Händen am Boden streifen, wenn die mitleidigen frommen Frauen sie nicht halten würden. Nun liegt er im Schoß der Mutter … Er gleicht einem großen, müden Kind, das ganz zusammengekauert an der Brust der Mutter ruht. Maria hält ihn in ihrem rechten Arm, den sie um die Schultern des Sohnes gelegt hat, und mit dem linken faßt sie über seinen Leib und hält ihn an der Hüfte. Der Kopf liegt auf der mütterlichen Schulter. Und sie ruft ihn … sie ruft ihn mit herzzerreißender Stimme. Dann löst sie ihn von ihrer Schulter und liebkost ihn mit der Linken. Sie nimmt seine Hände, biegt sie gerade, küßt sie und beweint die Wunden, bevor sie sie über dem toten Schoß kreuzt. Dann liebkost sie die Wangen, besonders dort, wo der blaue Fleck und die Schwellung ist. Sie küßt die eingesunkenen Augen und den auf der rechten Seite etwas schief gebliebenen und leicht geöffneten Mund. Sie möchte auch sein Haar ordnen, wie sie den blutverkrusteten Bart in Ordnung gebracht hat. Aber dabei stößt sie auf die Dornen. Sie sticht sich, als sie die Krone abnimmt, und will es doch selbst tun mit der einen freien Hand, weist alle ab und sagt: »Nein, nein! Ich! Ich!« Es scheint, als habe sie das zarte Köpfchen eines Neugeborenen vor sich, so sanft geht sie dabei vor. Und als es ihr gelungen ist, diese quälende Krone abzunehmen, neigt sie sich, um alle Kratzer der Dornen mit Küssen zu heilen. Mit zitternder Hand teilt sie das wirre Haar, ordnet es und spricht leise, leise, leise und wischt mit den Fingern die Tränen ab, die auf den armen, kalten, blutigen Körper fallen, und will ihn dann mit ihren Tränen und ihrem Schleier reinigen, der noch die Lenden Jesu bedeckt. Sie zieht ein Ende davon herauf und säubert und trocknet damit die heiligen Glieder. Immer wieder liebkost sie das Antlitz, die Hände, dann die zerschlagenen Knie und beginnt erneut, den Körper zu trocknen, auf den Tränen über Tränen fallen.

Während sie das tut, berührt ihre Hand die Seitenwunde. Die kleine, von dem leichten Linnen bedeckte Hand verschwindet fast ganz in der weiten Öffnung der Wunde. Maria beugt sich vor, um in dem inzwischen eingetretenen Zwielicht zu sehen, und sie sieht. Sie sieht die geöffnete Brust und das Herz ihres Sohnes und schreit auf. Es ist, als ob ein Schwert ihr Herz durchbohren würde. Sie schreit, fällt dann vorwärts über ihren Sohn und scheint ebenfalls tot zu sein. Die anderen eilen ihr zu Hilfe und trösten sie. Sie wollen ihr den göttlichen Toten abnehmen, und da sie klagt: »Wo, wo werde ich dich niederlegen, damit du in Sicherheit bist und an einem Ort, der deiner würdig ist?«, antwortet Josef mit einer tiefen, ehrfurchtsvollen Verbeugung, die Hand auf die Brust gelegt: »Tröste dich, Frau. Mein Grab ist neu und eines Vornehmen würdig. Ich gebe es ihm. Dieser hier, Nikodemus, der Freund, hat schon die Aromen als seinen Beitrag zum Grab gebracht. Aber ich bitte dich, da es bereits Abend wird, laß uns handeln … Es ist Rüsttag. Sei gut, o heilige Frau!« Auch Johannes und die Frauen bitten sie, und Maria läßt sich ihren Sohn vom Schoß nehmen. Sie erhebt sich mühsam, während man Jesus in das Leinentuch hüllt, und bittet: »Oh, seid vorsichtig!« Sie heben nun, Nikodemus und Johannes an den Schultern und Josef an den Füßen, den nicht nur in das Linnen gehüllten, sondern auch auf den Mänteln, die als Tragbahre dienen, ruhenden Leichnam auf und begeben sich auf den Weg abwärts. Von der Schwägerin und Magdalena gestützt und von Marta, Maria des Zebedäus und Susanna, die die Nägel, die Zangen, die Dornenkrone, den Schwamm und das Rohr aufgehoben haben, gefolgt, geht Maria zum Grab hinunter.

Auf dem Kalvarienberg bleiben die drei Kreuze zurück, von denen das mittlere leer ist, während die anderen beiden ihre sterbende Trophäe aus Fleisch und Blut tragen.

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Bild mit freundlicher Genehmigung von: http://www.lifeposters.org/

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